Hufschutz nur vorne – warum ich nichts davon halte

 

Häufig sind Pferde nur vorne beschlagen oder tragen nur an den Vorderhufen Hufschuhe und gehen hinten barhuf. Die Argumente, die man meistens hört, warum nur die Vorderhufe geschützt werden sind:

  1. Die Vorderhufe sind stärker belastet

  2. Die Vorderhufe sind empfindlicher. Sobald die Vorderhufe beschlagen sind bzw in Schuhen stecken, läuft das Pferd nicht mehr fühlig. Ein Schützen der Hinterhufe bringt scheinbar keine Verbesserung im Bewegungsbild. 

Erwiesenermaßen tragen beim stehenden Pferd die Vorderbeine einen größeren Teil des Körpergewichts. Der Schwerpunkt des Pferdekörpers ist näher an den Vordergliedmaßen. Sie werden also mehr belastet. Warum sind dann die Vorderhufe nur etwas anders geformt, nicht aber größer als die Hinterhufe, warum ist der Röhrbeindurchmesser vorne und hinten gleich? Weil das in der Bewegung nicht so ist. Die Vorderhufe werden nicht stärker belastet. Sie erfahren eine andere Belastung. Bei wissenschaftlicher Herangehensweise würde man die Belastung der Hufe bei Bodenkontakt ausdrücken mit der Bezeichnung „Bodenreaktionskraft“ (Ground reaction force, GRF). Bodenreaktionskräfte können mittels Druckmessplatten, über die das Pferd läuft, gemessen werden und zwar in allen drei Dimensionen. Vertikale Bodenreaktionskraft beschreibt die Lastaufnahme, also die Schwerkraft, die Kraft, die Richtung Erdmittelpunkt wirkt. Sie wirkt im Stand als auch in der Bewegung während der Stützbeinphasen. Horizontale Bodenreaktionskräfte wirken zusätzlich zum einen in medio-lateraler Richtung, das heißt seitlich, und zum anderen in der Achse der Fortbewegung, anterio-posterior, also entweder mit der oder gegen die Bewegungsrichtung.

Die vertikalen Bodenreaktionskräfte sind in der Bewegung, im Gegensatz zur Situation im Stehen aufgrund des Aufpralls des Hufs am Boden (Beschleunigung) erhöht.

Die medio-lateralen Bodenreaktionskräfte spielen bei der seitlichen Stabilisierung des Körpers eine Rolle und können sich naturgemäß in Kurven insbesondere bei hohen Geschwindigkeiten um ein vielfaches erhöhen. Aber nicht nur in Kurven, sie wirken auch bei nicht-planer Fußung bei den verschiedensten Besonderheiten im Bewegungsablauf.

Die anterio-posterioren Bodenreaktionskräfte wirken entweder bremsend oder beschleunigend. Übt das Tier mit der stützenden Gliedmaße eine Kraft gegen die Laufrichtung aus, wird die Fortbewegung abgebremst, erzeugt die stützende Gliedmaße Schub, also eine Kraft mit der Laufrichtung, wird die Fortbewegung beschleunigt.

 

Die Belastung der Hufe während der Bewegung setzt sich also aus Kräften aller drei Dimensionen zusammen, die durch die Beschleunigung viel höher sein können als im Stand und die auch in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen.

Die Vorderhufe unterliegen normalerweise mehr der vertikalen und der seitlichen GRF als die Hinterhufe. Sie sind vermehrt fürs Tragen und für die seitliche Stabilisierung des Rumpfs zuständig. Außerdem bremsen sie die Bewegung in kadenzierten Gangarten etwas ab, um den von hinten kommenden Schub teilweise nach oben umzuleiten.

Die Hinterhufe unterliegen deutlich höheren horizontalen GRFs in Laufrichtung. Die Hinterbeine sind vermehrt für den Schub, also den Vorwärtsantrieb zuständig. Diese unterschiedlichen Belastungsrichtungen äußern sich ja, gemäß dem Grundsatz „form follows function“ in der Hufform: der Vorderhuf ist mehr rund, der Hinterhuf mehr spitzoval.

Auch von der Seite gesehen gibt es einen Unterschied in der Form. Beim gesunden Pferd sind die Hinterhufe im Winkel zum Boden etwas steiler (50-55°) als die Vorderhufe (45-50°). Leider sieht das heutzutage bei vielen Reitpferden anders aus, aber dazu später mehr.

 

Das erste Argument ist also entkräftet. Die Vorderbeine werden nicht stärker belastet, sie werden nur anders belastet. Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass der Abrieb vorne und hinten unterschiedlich stark ist und auch nicht der Aufprall oder die Verformung während des Kontakts mit dem Boden.

Die Praxis zeigt aber ja, dass offensichtlich Vorderhufe viel öfter von schlechter Qualität sind als Hinterhufe. Sie sind öfter zu eng, haben verkümmerte Strahlkissen und Trachtenzwang und zu flache Sohlen. Und sie scheinen auch schmerzempfindlicher zu sein.

Auf Argument 2 gibt es zwei Antworten. Gehen wir zunächst davon aus, dass die Vorderhufe genauso schmerzempfindlich sind wie die Hinterhufe. Trotzdem läuft das Pferd besser, sobald es vorne Schuhe anhat. Das hat sensomotorische Gründe. Die Vorderbeine sind im Nervensystem sowohl was die Tastwahrnehmung als auch was die Koordination betrifft, den Hinterbeinen übergeordnet. Das macht Sinn, weil das Pferd ja beim Vorwärtslaufen zunächst mit den Vorderhufen den Boden vorfühlt. Die Hinterbeine laufen mehr oder weniger hinterher und treten ungefähr in die Fußstapfen der Vorderbeine. Außerdem muss das Pferd mit den Vorderbeinen die seitliche Stabilisierung feinkoordinieren. Bekommt also das Gehirn die Information, dass der Untergrund angenehm ist, weil der Vorderhuf durch ein Eisen vor Deformierung geschützt ist oder weil er einen Schuh mit stoßdämpfender Sohle trägt, ist das entscheidender für den Enthusiasmus der folgenden Bewegungsabläufe als die Tastinformationen, die von den Hinterhufen kommen. Die Reizschwelle ist vermutlich hinten höher und die koordinativen und motorischen Fähigkeiten, Schonbewegungen auszuführen sind geringer. Mit Schonbewegungen meine ich ein Verhindern von Aufprall, staksige, klamme, gegangene statt federnde Bewegungen wie man sie häufig vorne beidseitig sieht.

Die Empfindlichkeit fällt also hinten weniger auf. Außerdem kann das Pferd leichter Gewicht von hinten nach vorne verlagern als umgekehrt. Somit nehmen die vertikalen GRFs hinten ab und vorne zu. Auch dazu später mehr.

Die zweite Antwort auf Argument 2 ist, dass tatsächlich die Vorderhufe häufig in einem schlechteren Gesundheitszustand sind als die Hinterhufe. Wenn man bedenkt, dass es sich dabei um verkümmerte Bindegewebsstrukturen im Hufinneren handelt, die auf regelmäßiges Training angewiesen sind, wird klar, dass diese Hufe nicht über- sondern unterfordert sind bzw gelegentlich mit Anforderungen konfrontiert werden, für die sie nicht trainiert sind. Die Hinterhufe trainieren sich durch den Vorwärtsantrieb. Dieser findet auch bei schlecht gerittenen Pferden statt. Die Vorderhufe sind auf federnde vertikale Impulse nach oben angewiesen, diese bleiben aus, wenn das Pferd aufgrund von Trageerschöpfung seine Vorderbeine nur überrollt. Gründe für Trageerschöpfung können ein unbequemer oder zu schwerer Reiter sein, aber auch Schmerzen irgendwo im Vorderbein. Man sieht, hier kann sich ganz leicht ein Teufelskreis aus Empfindlichkeit und schlechter Hufform entwickeln.

 

In jeder Reitweise ist doch das Ziel, das Pferd in vermehrter Lastaufnahme der Hinterhand zu schulen. Ist es somit nicht unlogisch, die Vorderhufe unempfindlicher zu machen, indem man sie mit Beschlag oder Hufschuh vor dem Bodenkontakt schützt, die Hinterhufe aber ungeschützt zu lassen?

Ein Pferd hat vier Füße und ich finde, man sollte sich um alle vier gleichermaßen sorgen. Also entweder 4 Schuhe, 4 Eisen oder gar keine.

 

Die Nur-Vorne-Lösung hat in den allermeisten Fällen langfristig auch eine sehr ungünstige Konsequenz für den Pferderücken. Dieser hängt mit folgender, bei Reitpferden sehr weit verbreiteter Bewegungsstörung zusammen. Das Pferd ist vorderlastig. Es stabilisiert seinen Rücken gegen das Reitergewicht durch Abkippen des Beckens. Es ist hinten etwas höher als vorne und geht mit geraden, durchgestreckten Hinterbeinen. Knie- und Sprunggelenke winkeln sich zu wenig ab. Das Vorschwingen des Hinterbeins geschieht aus dem Hüftgelenk heraus, das Becken ist abgekippt, also tendenziell steil. Dadurch landet der Hinterhuf weiter vorne als normal. Dadurch landet er mit den Trachten zuerst. Diese reiben sich vermehrt ab, wodurch die Hinterhufe flacher werden im Winkel zum Boden. Oft sogar flacher als die Vorderhufe, wobei das Verhältnis eigentlich umgekehrt sein sollte, siehe oben. Sind die Vorderhufe nun auch noch beschlagen und der Schmied strebt eine besonders steile Hufform an, verstärkt sich das Missverhältnis noch mehr. An der zu flachen Winkelung hinten können oder wollen die Hufschmiede oftmals nicht wirklich was ändern, mangels Material.

Die kurzen Trachten an den Hinterhufen senken den Ansatz der tiefen Beugesehne ab. Diese ist Teil der oberflächlichen Streckerkette, nämlich der faszial verbundenen Muskulatur vom Genick über den ganzen Rücken und die Hinterbeinstreckmuskeln hinunter. Diese Faszienkette wird dadurch gedehnt. Sie ist nämlich mit der Schultermuskulatur verbunden und das Schulterblatt steht steiler aufgrund der höheren Trachten vorne. Sie sorgen für Rückständigkeit. Die Unterstützungsfläche des Pferdes wird also zusammengeschoben wie bei einer Bergziege. Die Oberlinie wird unverhältnismäßig langgezogen und bei jedem Schritt oder Tritt gezerrt. Eine Entlastung des langen Rückenmuskels durch regelmäßiges Zusammenschieben fehlt. Zu niedrige Trachten der Hinterhufe sind ein ernstzunehmendes Problem. Als Hufbearbeiter fühlt man sich oftmals hilflos, denn um die Zehe zu kürzen, muss ja erstmal genug Material vorhanden sein. Die Trachten wollen einfach nicht nachwachsen oder schieben unter. Erst durch die ganzheitliche, tensegrale Betrachtungsweise wird klar, dass schon deutlich helfen kann, die Vorderhufe nicht zu steil werden zu lassen und dass es sehr viel Sinn machen kann, auch die Hinterhufe vor Abrieb zu schützen. Noch wichtiger ist es aber, den natürlichen Bewegungsablauf des Pferdes wiederherzustellen. Das bedeutet, ein übertrieben weites Vorschwingen der Hinterbeine zu vermeiden und die Geschmeidigkeit der Lendenwirbelsäule am besten schon beim Jungpferd zu erhalten, indem man das Pferd vor zu viel Reitergewicht bewahrt. So wird auch ein Drehen der Hinterbeine beim Stützen und/oder Abfußen verhindert. Der Reiter muss selbst körperlich in der Lage sein, die dreidimensionalen Bewegungen des Pferderückens zu begleiten und sie nicht zu stören. Andernfalls ist keine Hankenbeugung möglich. Ohne Hankenbeugung fußen die Hinterhufe auch nicht achsengerecht. Sie entwickeln sich oft innen höher und außen niedriger, weil das Pferd mit der äußeren Trachte zuerst aufhuft. Auch das verstärkt sich ohne Hufschutz.

Dies soll kein Plädoyer für 4fach-Beschlag sein. Ich sehe  im 2fach-Beschlag die große Gefahr, dass man damit Symptome kaschiert und ein Pferd nutzbar macht, dass eigentlich den hohen Anforderungen des Reitens (noch) nicht gerecht werden kann und somit in einen Teufelskreis gerät, der oft jahrelang nicht geblickt wird, weder von Reitlehrer, Schmied noch sonstwem. Diese Problematik sehe ich unter den Freizeitpferden extrem oft. Vielen Pferdeleuten ist offensichtlich gar nicht mehr bewusst, dass die Hinterhufe steiler sein sollten als die Vorderhufe, eben weil man den Normalfall (also Gesundfall) so selten zu Gesicht bekommt.