Die Verletzung ist nichts. Die Zugsituation des Fasziensystems des ganzen Körpers ist alles.
Frei nach dem Wissenschaftler Antoine Bechamp,1816-1908, der für die Infektionsbiologie den Satz prägte: „Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles“, möchte ich auch im Hinblick auf Läsionen im Bewegungsapparat für einen ganzheitlicheren, ursachenforschenden Blick plädieren.
Mit Läsionen meine ich zum einen die üblichen Verletzungen oder entzündlichen Zustände im Bewegungsapparat. Da wären Sehnenzerrungen und -anrisse, Arthritis, Arthrosen, Spat, Bandverletzungen, verknöcherte Bandansätze, Hufrollenentzündung, Muskelverspannungen und -entzündungen etc. Zum anderen werden in der Osteopathie sogenannte Blockierungen, meist von Gelenken, als Läsionen bezeichnet. Das, was von Pferdebesitzern landläufig oft unter „ausgerenkt“ verstanden wird.
Ziel der Schulmedizin ist es erstgenannte Läsionen zur Ausheilung zu bringen oder zumindest in ihrer entzündlichen Reaktion zu mindern. Es wird investiert in entzündungshemmende oder
knorpelschützende Medikamente und Methoden, die die Gewebeneubildung anregen wie etwa PRP-Injektionen.
Ziel der Osteopathie und der Chiropraktik ist es zweitgenannte Läsionen zu lösen und damit die volle Beweglichkeit einzelner Gelenke wiederherzustellen.
Aber warum treten viele dieser Läsionen immer wieder erneut auf? Und warum treten sie überhaupt auf? Handelt es sich jedesmal um unglückliche Zufälle, wobei sich das Pferd einfach nur „vertreten“
hat?
Ich glaube, dass solche Zufälle sehr, sehr selten sind und nur in diesen seltenen Fällen ist es damit getan, sich auf die funktionelle Wiederherstellung der speziellen lädierten Struktur zu
konzentrieren.
In schätzungsweise 95% der Fälle kann man erkennen, schaut man sich das Pferd im Ganzen an, dass es kein Zufall ist, dass es sich gerade an dieser Sehne oder an jenem Band verletzt hat oder dass ein bestimmtes Gelenk erhöhtem Verschleiß ausgesetzt ist.
Ein Pferd ist, wie jedes andere Säugetier auch, ein tensegrales System. Es ist nicht ein Bauwerk aus Knochen, die irgendwie mit Bändern verbunden sind und von Muskeln bewegt werden. Nein, die
Gesamtheit aller Weichteile des Bewegungsapparats (die Faszien) bildet ein zusammenhängendes Netzwerk, in dem die stabilen Bestandteile, die Knochen, elastisch aufgespannt sind. Die Muskeln
bilden innerhalb dieses Netzwerks kontraktile Elemente, die den Spannungszustand der elastischen Teile an verschiedenen Stellen verändern, also anpassen können.
Im Idealfall bleibt der Spannungszustand auch in der Bewegung überall gleichmäßig. Ist nämlich irgendwo ein elastischer Teil des Systems zu locker, kann das dazu führen, dass zwei Gelenkflächen
nicht auseinandergehalten werden, sondern aufeinander reiben (Arthrose) . Oder eine nicht vorgespannte Sehne „schnappt“ bei plötzlicher Belastung. Ist dagegen an anderer Stelle zuwenig
Elastizität vorhanden, etwa durch Muskelverkrampfung, kann auch das verständlicherweise zu Zerrungen führen.
Die Frage muss also lauten: Wo ist das Skelett meines Pferdes nicht gleichmäßig aufgespannt, so wie von der Natur vorgesehen? Und warum?
Zunächst zur ersten Frage. Da gibt es viele Möglichkeiten. Das Pferd kann zB ein Vorderbein mehr belasten als das andere. Es wird seinen Schwerpunkt vermehrt in Richtung dieses Vorderbeins
verlagern oder anders gesagt, den entsprechenden Huf weiter unter den Körper bringen und auch in der Bewegung dort länger belassen. Es ist für jeden verständlich , dass es gewisse Muskeln gibt,
die sich hierfür vermehrt kontrahieren um das Körpergewicht dorthin zu bringen, also aus seiner natürlichen Balance heraus. Und es ist auch logisch, dass in einem zusammenhängenden elastischen
Netzwerk nun an anderer Stelle Strukturen vermehrt gedehnt werden. Hält der Zustand sehr lange an, passen sich die Strukturen an. Die gedehnten leiern aus, die kontrahierten verkürzen sich .
Passiert dies vor allem durch statische Haltearbeit verlieren sie dabei sogar an Elastizität. Passiert das moderat und durch federnde Bewegungen nimmt die Elastizität zu, was in dem einen Fall
gut sein kann, an einem anderen aber zu unvorteilhafter Instabilität führen kann. Es kommt also auf ein gesundes Gleichgewicht an Elastizität und Stabilität an. Rund um jedes einzelne Gelenk des
Körpers sowie bezogen auf die Gleichmäßigkeit der verschiedenen Gelenke untereinander. Beispielsweise sollten alle Lendenwirbel gleich stabil aufgespannt sein und nicht einer durch vermehrte
Beweglichkeit aus der Reihe tanzen. Oder das Pferd sollte nicht in einer Schulter bei jedem Schritt einknicken, während die andere sehr stramm gestreckt bleibt.
Eine gewisse Elastizität der Faszien ist für das Lauftier Pferd essentiell, weil es dadurch bei jedem Schritt bzw Sprung einen guten Teil Landeenergie in Form von Katapulteffekten für den
nächsten Schritt oder Sprung nutzt. Alle Bewegungen rein mit Muskelarbeit zu verrichten wäre viel zu energieaufwändig und auch zu langsam. Ein Reitpferd soll kein Bodybuilder werden. Die Muskeln
haben vor allem die Aufgabe, die Sehnen und anderes fasziales Gewebe jeweils adäquat vorzuspannen, so dass alle Strukturen stabilisiert sind und gleichzeitig die energiesparenden Katapulteffekte
genutzt werden können. Auf das richtige Verhältnis von Muskelkraft und Faszienelastizität kommt es an.
Soweit die Idealvorstellung. Fakt ist, dass jeder Körper Ungleichmäßigkeiten aufweist. Besonders in der Rechts-Links-Balance. Auch Pferde sind, wie wir Menschen Rechts- oder Linkshänder und
belasten ihre rechten und linken Beinpaare unterschiedlich. Der sogenannten lateralen Balance muss das Nervensystem eines Vierbeiners besonders viel Aufmerksamkeit schenken. Aufgrund seiner
Unterstützungsfläche, die viel schmaler als lang ist, ist es viel wahrscheinlicher zu einer Seite hinzufallen als nach vorne oder hinten. Wird also ein Bein bevorzugt benutzt bzw ein anderes
geschont, setzen den ganzen Körper betreffende Stabilisierungsmechanismen ein, die ein Umfallen verhindern.
Die Frage ist, wie ausgeprägt diese Imbalancen sind und wie man reiterlich, mit gymnastizierender Bodenarbeit aber auch in der Haltung des Pferdes diese in harmloseren Maßen halten kann.
Zunächst stellt sich aber die Frage nach den Ursachen. Handelt es sich nur um die natürliche Schiefe, an der evtl vor oder bei dem Einreiten des Pferdes nicht ausreichend gearbeitet wurde? Oder zwingen Schmerzen das Pferd in diese ungesunde Körperhaltung? Häufig unterschätzt wird zB Strahlfäule als massive Schmerzquelle, die das Pferd seine Schritte verkürzen lässt. Unpassende Ausrüstung? Zu hohe Tragebelastung? Ein ungünstiger Körperbau der gezielteres Training erfordern würde? Überhaupt unvorteilhafte Trainingsmethoden? Und ganz ganz häufig: zu viel Stehen! Beim Stehen arbeiten die Muskelgruppen energiesparend und anders zusammen als in der Bewegung. Geschieht dies zu viele Stunden am Tag werden die „Stehprogramme“ der Muskulatur zu dominant. Nicht nur, was die Steuerung durchs Nervensystem angeht, nein, sie werden auch durch die oben beschriebene Anpassung der Faszien körperlich zementiert. Das Pferd nutzt dann in der Bewegung seine Muskeln so, wie sie eigentlich fürs Stehen vorgesehen wären, eine Abstimmung der Bewegung aller vier Beine aufeinander ist dann nicht mehr korrekt möglich.
Die möglichen Abweichungen vom Ideal eines Pferdekörpers sind vielfältig: zu rechtslastig, zu linkslastig, zu Vorhandlastig (zu Hinterhandslastig ist selten und wenn dann ein Ausdruck starker
Schmerzen). Zu viel Adduktion (Einziehen der Gliedmaßen unter den Körper), zu viel Abduktion (das Gegenteil) . Die Stabilisierung der Wirbelsäule kann an bestimmten Abschnitten zu massiv durch
beugende oder zu massiv durch streckende Muskeln erfolgen. Die Aufhängung des Rumpfes an den Vorderbeinen kann zu stark zwischen Brustbein und Oberarm erfolgen und zu wenig zwischen Rumpf und
Schulterblatt.
Ganz allgemein: Welche Strukturen sind zu sehr belastet und wo fehlt Belastung im Sinne einer symmetrischen Verteilung? Welche Strukturen sind zu lang, zu kurz, zu hypermobil oder zu steif?
Welche Muskeln arbeiten zu wenig, welche zu viel, zu ungunsten eines faszialen Federns?
All dies kann man einem Pferd mit geübtem Blick leicht ansehen. Auch kann man sehen oder fühlen, wie lange solch eine (Schon-)Haltung schon besteht. Überbelastete Muskeln sind zunächst
hypertroph, also stark trainiert, später können sie wieder einschrumpfen und funktionell zu harten Bändern werden, wenn ihre Elastizität über lange Zeit nicht gefragt war sondern sie ständig
Haltearbeit leisten mussten.
Besonders deutlich zeigt auch die Form der Hufe Imbalancen im Fasziensystem an, die ja letzlich nur eine Umhüllung aus Horn desselben sind. Viele Pferdebesitzer scheint es nicht sehr besorgt zu
stimmen, wenn ihr Pferd einen steilen und einen flachen Huf hat. Das sollte es aber, denn genauso schief ist letztlich das ganze System. Und dafür ist nicht (allein) der Hufbearbeiter
verantwortlich. Er kann nur verhindern dass die Bewegungs- und Belastungssituation, so wie sie stattfindet, in den Hufen zementiert wird. Oder diesen Effekt zumindest mindern.
Diese Imbalancen sind lange sichtbar, bevor die ersten Verletzungen auftreten. Und ist eine Verletzung da, machen natürlich entzündungshemmende Maßnahmen und lokale Behandlungen Sinn. Ich mache das als Tierheilpraktikerin auch, etwa mit Blutegelbehandlungen. Auch die Mobilisierung mittels Osteopathie oder Chiropraktik kann im Falle von traumatisch bedingten Blockierungen Erleichterung verschaffen. Aber arbeitet man nicht an den Ursachen, dem „verzogenen“ Gesamtsystem, sind diese Maßnahmen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Was kann man tun? Wenn man abstellbare Ursachen abgestellt hat, mögliche Schmerzquellen beseitigt, die Haltung so optimiert hat, dass viel Bewegung und auch Hinlegen möglich ist, vorsintflutliche Trainingsmethoden über Bord geworfen hat … bleibt noch ein Zustand der sich irgendwo befindet zwischen der Gewohnheit des Pferdes sich eben genau so zu bewegen wie es sich seit Jahr und Tag bewegt, schwächer trainierte Muskeln eben nicht so sehr zu benutzen, weil dies anstrengender ist und der eventuell schon eingetretenen Unfähigkeit sich anders zu bewegen aufgrund oben beschriebener Anpassungen des Fasziensystems.
Möchte ich ein Pferd gesund trainieren muss ich mich folgendes fragen: welche Körperteile brauchen mehr Beweglichkeit, welche mehr Stabilität? Welche mehr Beugung, mehr Streckung, Mehr
Lastaufnahme, mehr Schub? Was braucht das rechte Vorder- oder Hinterbein, was das Linke? Und wenn ich das weiß, ist das überhaupt möglich? Wird dies durch Schmerzen verhindert, oder würde ich
damit Schmerzen oder Schäden hervorrufen? Kann ich dem Pferd eine gewisse Bewegung, die es freiwillig nicht tut, getrost zumuten und dafür stärker mit der Hilfengebung einwirken? Wie kann ich dem
Pferd diese Bewegung zunächst leicht machen? Wieviel ungesunde Bewegung kann ich dem Pferd erlauben, bis es eine gesündere Lösung gefunden hat? All diese Fragen müssen für jedes Pferd, für jedes
Körperteil und für jeden Tag individuell eingeschätzt werden.
Die Antworten auf Trainingsfragen sind leider nicht so einfach wie : „Du musst auf der einen Hand mehr Travers und auf der anderen Hand mehr Schulterherein reiten.“ Es macht keinen Sinn mit dem
Pferd eine Lektion zu praktizieren auch wenn sie der Logik der Reitlehre nach noch so hilfreich für dieses Pferd erscheinen mag, wenn das Pferd diese Lektion einfach noch nicht korrekt ausführen
kann. Wenn es mir z.B. beim Schulterherein nicht gelingt, die äußere Schulter am Ausbrechen zu hindern, weil sie einfach zu instabil ist, mache ich es dadurch nur schlimmer. Dann zerlege ich die
Lektion lieber erstmal in ihre Einzelbestandteile und mache z.B. zunächst Schenkelweichen an der Hand. Auch wenn dies kein echter Seitengang im Sinne der Reitlehre ist. Notfalls im
Zeitlupentempo, Schritt für Schritt. Manchmal fängt es auch einfach damit an, ein Pferd sinnvoll spazieren zu führen, von der richtigen Seite und in vorteilhaftem Tempo.