„Weggedrückter Rücken“ - das Unwort

Gute Reiter, die sich mit der Biomechanik des Pferdes befassen, benutzen oft die Begriffe „Widerrist anheben“ oder „Brustkorb anheben“ als erstrebenswerte Merkmale eines gut gerittenen Pferdes.

Laien meinen das selbe, wenn sie sagen, dass ein „weggedrückter Rücken“ zu vermeiden ist.

Ich habe auch oft von einem Anheben des Brustkorbs gesprochen und möchte , dass das Pferd vorne groß und die Vorhand leicht wird. Ich bin mir auch sicher, dass wir alle das Richtige, das Gesunde meinen, muss aber sagen, dass ich diese Begriffe nicht mehr hören kann! Sie sind so unglaublich missverständlich und werden der Komplexität des Pferdekörpers nicht gerecht. Er ist, im wahrsten Sinne des Wortes, vielschichtiger. Mit „Rücken hoch“ ist es lange nicht getan, im Gegenteil, dies kann unter Umständen sogar sehr schädlich sein.

Beim Beobachten von verschiedenen Reitern und Pferden sind mir so starke Ungereimtheiten begegnet, wenn ich z.B. auf Leichtigkeit der Vorderbeine und eine schöne Halshaltung geachtet habe. Es sah trotzdem für mich nicht stimmig, nicht gesund aus. Der Reiter trohnte über dem Pferd. Umgekehrt gefielen mir manchmal Pferde, deren Rücken sichtbar nach unten nachgab, ja geradezu durchhing. Hier saß der Reiter mehr „im“ Pferd, wurde mehr mitgenommen in die Bewegung.

Nun kann ich das erklären.

Es gibt zwei Dinge am Rumpf des Pferdes, die man getrennt voneinander betrachten muss: zum einen die Wirbelsäule und die Bewegungsmöglichkeiten der einzelnen Wirbel zueinander, zum anderen den Rumpf als ganzes und seine Aufhängung zwischen den Pferdebeinen.

Die Wirbelsäule nennt man treffender Wirbelkette.

Ja, es sollte eine bewegliche Kette sein, nicht eine starre Säule. Mehr oder weniger. Je nachdem wofür das Pferd seinen Körper einsetzen soll. Eine starrere Säule schluckt weniger Schub, hat eine gewisse Stabilität, man kommt auch mit wenig Kraftaufwand von der Stelle. Für ausdauernde Wanderritte auf ebenem Gelände mit einem schweren Reiter sicher nicht das schlechteste. Mehr Beweglichkeit macht das Pferd wendiger und überhaupt erst fähig zu Biegung und damit zur Versammlung. Das heißt, das Verhältnis aus Kraft der Gliedmaßen und Beweglichkeit der Wirbelkette muss bei einem Dressurpferd recht hoch sein. Und da wir ja wissen, dass die Dressur für das Pferd da ist und nicht umgekehrt, sollte jedes Pferd, das heutzutage einen Reiter tragen muss auch ein kleines Dressurpferd sein. Oder wenigstens ein Berg-, Hang- und Talpferd, denn auch hierbei braucht die Wirbelsäule Beweglichkeit, damit es nicht ungebremst hinunterrennen oder sich mühsam mit der Vorhand hochziehen muss.

Heutzutage findet das Reiten ja zum Spaß statt und die Gesunderhaltung des Pferdes sollte im Vordergrund stehen, nicht die Kilos oder Kilometer, die sein Körper stemmen kann.

Beweglichkeit der Wirbelkette oder -säule bedeutet für mich, dass jedes einzelne Wirbelgelenk im Ruhezustand eine Neutralposition einnimmt von der aus es sich in BEIDE (!) Richtungen bewegen KANN. Das heißt, dass der Rücken sehr wohl nach unten nachgeben darf, denn er kann sich ja schließlich auch aufwölben, wenn die Situation es gebietet. Und es wird noch interessanter:

Auf den meisten Darstellungen des Pferdeskeletts hat es den Anschein, als sei die Wirbelsäule von Brust bis Lende physiologischerweise ganz gerade. Das ist falsch. Die Brustwirbelsäule bildet an ihrem vorderen Ende, zusammen mit den letzten Halswirbeln (der CTÜ, cervikothorakaler Übergang) eine Lordose, d.h. Einen Schwung nach unten . Dies ist physiologisch und kein weggedrückter Rücken. Krank ist eine Streckstellung der vorderen Brustwirbelsäule (sie ist dann ganz gerade wie die Halswirbelsäule eines Menschen mit Schleudertrauma). Diesen Verlust der natürlichen S-Kurve erkennt man sehr deutlich an den Dornfortsätzen des Widerrists. Sie zeigen normalerweise schräg nach hinten und in diesem Fall stellen sie sich auf wie die Nackenhaare eines Hundes und fächern auf. Der Widerrist wird auffallend Prominent, die Dornfortsätze kann man zählen.( Und das Pferd wird auch nach vorne hin länger) Das ist nicht gesund! Solch eine Haltung ist keinesfalls das, was gemeint ist, wenn versierte Reiter von einem „angehobenen Widerrist“ sprechen. Schon alleine weil hiermit kein statisches Phänomen gemeint ist, welches das Pferd auch im Ruhezustand beibehält. Sondern etwas dynamisches, das das Pferd tut, um den momentanen erhöhten Anforderungen wie Reitergewicht, Wendigkeit oder Biegsamkeit, also letztlich Versammlung, gerecht zu werden. Und wenn man es genau nimmt, hebt es genau hierbei gar nicht den Widerrist an, sondern senkt ihn sogar (im Verhältnis zum Rest der Wirbelsäule) ab! Es hebt stattdessen die Halsbasis an, die Lordose im CTÜ verstärkt sich. Sonst könnte der Hals nämlich gar nicht nach oben. Was sich anhebt, dann im Idealfall gleichzeitig, ist der Rumpf als Ganzes. Durch eine Aktivität des wichtigsten Rumpfträgers, Musculus serratus ventralis. Er entspringt innen an den Schulterblättern und zieht fächerförmig an die letzten paar Halswirbel und die ersten paar Rippen. Und dieses Anheben darf tatsächlich langfristig auch im Ruhezustand bestehen bleiben, in gewissem Maße. Nicht im Sinne einer Dauerkontraktion, sondern weil ein trainierter Muskel dicker ist, dadurch die ihn umhüllenden Faszien straffer gespannt sind und es zu einer Verkürzung kommt. Das Pferd wird größer und breiter in der Brust. Zunächst ist es aber schon ein Erfolg, wenn es gelingt, das Pferd während der Arbeit in diesem Sinne größer werden zu lassen. Das sind dann die ersten Trainingsreize für den Rumpftrageapparat.

Natürlich gibt es auch die Pferde, bei denen die Brustwirbelsäule zu viel nach unten nachgibt und die sich zu eng im CTÜ machen. Aber ehrlichgesagt, sehe ich diesen Fehler heutzutage viel seltener als den hochgedrückten, aufgestellten Widerrist. Ersterer scheint aber in den Köpfen der Allgemeiner viel gefürchteter zu sein. Vielleicht stammt diese Angst noch aus den sechziger Jahren, wo das Schönheitsideal ein hochgereckter und nicht ein eingerollter Hals war. Was man erahnen kann, wenn man Fotos betrachtet, auf denen sich Reiter stolz mit ihrem Pferd präsentieren.

Alles Extreme ist ungesund.

Betrachten wir den weiteren Verlauf der Wirbelkette, finden wir auch im Bereich von Lendenwirbelsäule und Sakrum jeweils eine physiologische leichte Kyphose, d.h. Eine Aufwölbung nach oben. Diese ist allerdings unterbrochen durch das Lumbosakralgelenk, das den Beckenwinkel einstellt. Dadurch hat das gesunde Pferd keinen Rundrücken wie ein Kamel.

Man darf sich nicht täuschen lassen durch die von außen sichtbare Oberlinie des Pferderückens. Sie wird nur gebildet durch die unterschiedliche Länge der Dornfortsätze. Diese sind im Widerrist nun mal mit Abstand am längsten und hier ist nicht der höchste, sondern der tiefste Punkt der Wirbelsäule, jedenfalls wenn man die Position der WirbelKÖRPER betrachtet, die ja den Schub aus der Hinterhand nach vorne weiterreichen.

Somit wird klar, dass der Schub nach vorne bergab geht (er könnte auch bergauf gehen, aber das ist zunächst einmal Wunschdenken des Reiters). Damit das Pferd also nicht vorne in den Boden hineinläuft müssen erstens die Vorderbeine einen Hub nach oben erzeugen. Dies ist das Anheben des Rumpfes als Ganzes, mittels der Rumpftragenden Muskulatur. Dies leistet nicht nur M.serratus ventralis, sondern auch die, zwischen Oberarm und Brustbein befindlichen Pectoralmuskeln (Brustmuskeln). Letztere leider oft in zu starkem Maße, dies ist eher ein unerwünschter Notfallmechanismus, eben weil er das Nachgeben des CTÜ nach unten behindert. Soll der Hals dann trotzdem nach oben, geht das nur mit Gewalt. Der CTÜ wird überfordert, die Lordose reicht weiter nach oben in die Halswirbelsäule hinein, der Unterhals wölbt sich hirschartig hervor. Bei tiefer Halshaltung findet man hier dann häufig einen übermäßig gebeugten oder sogar eingerollten Hals. Der Hals will nach unten, der Widerrist nach oben. Genau so soll es nicht sein. Auch beim korrekten Vorwärts-Abwärts muss die Halsbasis immer nach oben zeigend aus den Schultern herauskommen!

Ein ähnliches Missverständnis gibt es in Bezug auf die Beckenposition. Es ist nicht Sinn der Sache, dass ein Pferd dauerhaft, auch im Ruhezustand mit abgekipptem Becken dasteht. Es würde ja auch niemand von seinem Pferd erwarten, dass es mit gebeugten Hanken dösend auf dem Paddock steht. Kehrt das Becken nicht wieder in die Neutralposition zurück, dann ist das pathologisch. Ein in Beugung fixiertes Lumbosakralgelenk (LSG) lässt darauf schließen, dass der vorhergehende Wirbelsäulenabschnitt seine natürliche Kyphose verloren hat, also die Lende zu sehr durchgestreckt ist. Vielleicht hat sie unter einem drückenden Sattel nachgegeben. Umgekehrt geht ein zu flach stehendes Becken, also ein in Streckung fixiertes LSG manchmal mit einer übermäßigen Aufwölbung der Lendenwirbelsäule einher, erkennbar auch hier an den herausragenden, „zählbaren“ Dornfortsätzen.

Diese Haltungsfehler sind analog zu Dingen wie Rundrücken, Buckel, Hohlkreuz oder Flachrücken bei uns Menschen. Sie müssen getrennt betrachtet werden zu der Aufhängung des Rumpfes zwischen den Vorderbeinen (die es bei uns Menschen ja nicht gibt). Es können alle möglichen Kombinationen vorkommen. Ein gut angehobener oder durchgesackter Rumpf mit oder ohne Verlust oder Übertreibung der S-kurven der Wirbelsäule.

So richtig klar geworden ist mir das erst, als ich Pferd kennenlernte, das tatsächlich vorne höher war als hinten. Bisher dachte ich, vorne zu hoch gibt es nicht. Doch, und es ist ein großes Problem. Die Hinterbeine werden dauerhaft überlastet, sie stecken das schlechter weg als die Vorderbeine. Bei diesem Pferd, übrigens ein Friese-Haflinger-Mix, möchte ich mehr Schwung in der Wirbelsäule herausarbeiten, also einen engeren Winkel im Cervikothorakalen Übergang und ein „tieferlegen“ der vorderen Brustwirbelsäule. Nicht der Rumpfaufhängung.

Die Aufgabe dieses Winkels, des CTÜ, ist ein Auffangen des nach vorne unten kommenden Vorwärtsschubes. Zur Unterstützung und NEBEN der rumpfhebenden Tätigkeit der Vorderbeine. Deshalb nickt, im Idealfall, der Kopf um so mehr nach oben, je mehr Schub die Hinterbeine produzieren. Und dann sitzt der Reiter auf elastisch gespannter Muskulatur und nicht direkt auf den Knochen des Pferdes. Daher hat er das Gefühl, einerseits hochgehoben zu werden und gleichzeitig doch mehr „im“ Pferd zu sitzen und nicht statisch über dem Pferd. Er oder sie merkt nun auch, dass die eigene Lendenwirbelbeweglichkeit nun gefragt ist um die Bewegungen des Pferderückens mitzumachen und man hiermit jetzt auch sehr leicht Einfluss auf die Bewegungen des Pferdes nehmen kann.

Ich finde, so lassen sich einige Widersprüchlichkeiten der unter Reitern gebräuchlichen Begriffe auflösen.

 

© Margitta Sharma

 

Widerrist, gestreckte, unelastische  Wirbelsäule
prominenter Widerrist, gestreckte, unelastische Wirbelsäule
Zu sehr abgekipptes Becken, zu offener CTÜ, zu viel Last auf der Hinterhand
Zu sehr abgekipptes Becken, zu offener CTÜ, zu viel Last auf der Hinterhand
Das Schreckgespenst "weggedrückter Rücken" Gar nicht so häufig
Das Schreckgespenst "weggedrückter Rücken" Gar nicht so häufig